Wer sich am achten Februar trotz eisigen Wetters ins Konfuziusinstitut Berlin gewagt hatte, konnte Prof. Klaus Mühlhahns Vortrag: „Die Vierte Mai Bewegung 1919 im globalen Kontext – Eine Neubestimmung“ hören. Mühlhahn ist zur Zeit Professor für Geschichte an der Universität Indiana, kehrt jedoch im Mai dieses Jahres als Professor an das ostasiatische Institut der Freien Universität zurück, in dem er 1993 sein Studium begonnen hatte.
Die Bewegung des 4. Mai ist eine der interessantesten intellektuellen Strömungen der chinesischen Geschichte des 20. Jahrhunderts und hochrelevant für die gesamte darauf folgende Entwicklung. Prof. Mühlhahn hat sich in seinem Vortrag zur Aufgabe gemacht, den Geschichtsabschnitt aus einem globalen Blickwinkel zu betrachten und das Paradigma zu brechen, die Bewegung sei von außen unbeeinflußt und vorrangig national orientiert gewesen. Dazu umriß er zunächst, welche Ereignisse in anderen Ländern der Bewegung des 4. Mai vorangingen, sprach dann darüber, auf welche Weisen China Zugriff auf diese Informationen hatte und gab schließlich einen kurzen Ausblick auf andere Ereignisse chinesischer Geschichte, die im globalen Kontext zu verstehen seien.
Als Brennpunkte verstand er dabei die Unruhen, Streiks und Boykotte des gleichen Jahres in Ägypten, die Aufruhre für Demokratie und Mitbestimmung in Indien, sowie Korea, das mit Aufständen von insgesamt etwa einer Millionen Menschen versuchte, sich von der japanischen Annektierung zu befreien. In allen drei Ländern wurden Petitionen verabschiedet, die man der Friedenskonferenz von Versailles vorzulegen plante. China habe aus den internationalen Protesten gelernt, daß es, um nicht rückständig zu werden, ähnliche Entwicklungen initiieren müsse und daß Kolonialmächte ohne Widerstand keine Selbständigkeit gewährten. Die Ziele der Bewegung des 4. Mai, die Mühlhahn auf drei Forderungen beschränkt (Aufhebung der ungleichen Verträge von 1900, Beendigung der Exterritorialität und Rückgabe Qingdaos), versuchte man mit den Methoden umzusetzen, von denen man aus dem Ausland gehört hatte.
Chinesische Intellektuelle erfuhren von diesem „Protestarsenal“ über verschiedene Kanäle, allem voran über die etwa 500 verbreiteten lokalen und nationalen Zeitungen, die zu der Zeit in China kursierten. Mühlhahn hat daher für seine Analyse vier Zeitungsartikel als Beispiele herangezogen: einen aus einer Publikation der Shanghaier Studentenvereinigung, einen aus der Xiangjiang-Zeitung (an der Mao Zedong maßgeblich beteiligt war) und zwei Artikel des Journalisten Zou Taufen, die allerdings erst nach 1919 erschienen sind. In den Artikeln wird jeweils auf ausländische Bewegungen verwiesen, an denen sich China orientieren könne oder müsse. Die darin implizierte Beeinflussung der Bewegung des 4. Mai durch das Ausland sei, so Mühlhahn, ein in der bisherigen Forschung vernachlässigter Aspekt.
Im Anschluß wurden noch verschiedene andere Eckpunkte der chinesischen Geschichte angesprochen, die allerdings nicht mehr unmittelbar mit dem 4. Mai in Verbindung standen. Zwischen dem Publikum des gut besuchten Vortragssaales und Prof. Mühlhahn entspann sich schließlich auch eine Diskussion mit vielen konkreten Nachfragen, die zwar nicht immer vollständig geklärt werden konnten, den Vortrag jedoch thematisch abrundeten und weitere Denkanstöße gaben.
Daß die Bewegung des 4. Mai inhaltlich größere Dimensionen annahm, als im Vortrag mit den drei Punkten umrissen wurde, heißt natürlich nicht, daß die philosophischen, literarischen, sprachlichen, aber auch weiteren politischen Gesichtspunkte nicht ebenfalls vom Ausland beeinflußt wurden. Im Gegenteil ist es sogar oft so offensichtlich, daß die Frage, ob es eine „globale“ Dimension gegeben habe, sich gar nicht stellt und in der kulturell-geistigen Seite der Bewegung des 4. Mai auch nicht von einem national oder intern beschränkten Paradigma die Rede sein kann. Mit seinem Vortrag hat Mühlhahn jedoch das spannende Forschungsfeld der politischen Abhängigkeiten eröffnet und auf die vielen noch unbearbeiteten Quellen, die vor allem in Zeitungsarchiven auf Wissenschaftler warten, hingewiesen. Es ist zu hoffen, daß in der Zukunft die Vorbilder und Wechselwirkungen der chinesischen Geschichte noch genauer untersucht werden.