Die Überschrift fristet ihr Dasein als bloßer Aufhänger – die Rechtschreibreform von 1996 war schlecht gemacht, das wissen sogar diejenigen, die sie initiiert haben. Der Wahnsinn aus der Mitte der Neunziger wurde zehn Jahre später abgemildert; zurück blieb etwas, das mehr einer Rechtschreib-Empfehlung als einem -Regelwerk gleicht – und jede Menge Einzellösungen, die sich von Verlag zu Verlag, ja von Person zu Person unterscheiden.
Meinem ordnungsliebenden Herzen widerstrebt solche Schreibvarianz, allerdings hat es sich inzwischen ein dickes Fell zulegen müssen: Ein Blick ins Japanische stumpft auch den schärfsten Reformgegner ab, denn dort kann jedes Wort in mindestens drei, häufig mehr Varianten geschrieben werden. Ganz so weit haben es die Reformisten nicht gebracht, aber die entstandene Konfusion ist doch recht beachtlich.
Waren die Wörterbuch- und Schulbuchverlage die einzigen Gewinner der Reform, so gibt es mehrere Verlierer, allen voran die Generation Schüler, die zu meinen jetzigen Studenten herangewachsen sind. Das Ziel, weniger Fehler hervorzurufen, hat die Reform auch laut offizieller Studien verfehlt, und die Hausarbeiten auf meinem Schreibtisch bestätigen das. Ich kann mir kaum vorstellen, dass vor 1996 in studentischen Hausarbeiten mehr Fehler gemacht werden konnten als in den meisten, die dieser Tage durch meine tintenroten Finger gingen. In erster Linie erweckt das mein Mitleid, denn ich weiß natürlich, dass diese Studenten nicht nur mit einer alten und einer neuen, sondern einer alten und drei neuen Schreibvorgaben aufgewachsen sind.
Tropften sich 2004 noch zahllose Schriftsteller, Politiker, A-, B- und C-Prominente lieber Mayonnaise als Majonäse auf die Hose, hat sich inzwischen selbst die FAZ für eine eigene Rechtschreib-Variante entschieden, in der wesentlich seltener ein Rucksack-S untergebracht ist als noch vor 2005. Und obwohl ich meine Schreibweisen nicht verändert habe, wurde ich in den Augen meiner Mitmenschen binnen eines Jahrzehnts vom Fels in der Brandung zu einem an den Strand gespülten, kuriosen Fossil.
Von Studenten werde ich verwirrt für ein Tafelbild angesehen, auf dem der Kuß zum Schluß zu naß war oder ein gut plaziertes Känguruh seine Portemonnaies numeriert. Und das nicht mal wegen des Inhalts. Ich werde darauf hingewiesen, etwas falschgeschrieben – oder eher: falsch geschrieben – zu haben. Eine unangenehme Situation. Ich lasse mich gern als Ewiggestrige bezeichnen, wenn es um Erhaltenswertes geht, aber für der deutschen Schrift nicht mächtig gehalten zu werden ist unangenehm.
Außerdem komme ich in meiner Arbeit als Übersetzerin in die Bredouille (oder lieber Bredullje?). Meine Auftraggeber verlangen die NDR, und natürlich bekommen sie die auch. Sobald ich wieder an eigenen Texten sitze, braucht es eine Zeit, bis mein Gehirn schriftlich wieder vor 2004 angelangt ist; eine lästige Übung, der ich mich ständig zu unterziehen gezwungen bin. Kurz und schlecht: Ich werde umstellen, zumindest in Sachen stimmloser alveolarer Frikativ, denn die optische Anpassung von ß und ss ist einerseits noch am erträglichsten an all dem Reformierten und andererseits die auffälligste Abweichung meines Schreibstils von den vielen aktuellen. Außer einem reinen Gewissen bringt es nicht viel ein, eine Tradition aufrechtzuhalten, wenn die von vielen gar nicht mehr als solche erkannt wird.